Newsletter der nmz - Martin Hufner

Liebe Newsletterabonnent:innen,

heute kann der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas seinen 95. Geburtstag feiern. Den meisten unserer Leserinnen und Lesern dürfte er nicht aufgefallen sein durch eine besondere Affinität zu musikalischen oder auch im weiteren Sinn ästhetischen Fragestellungen. Gleichwohl ist er einer der bedeutendsten Vertreter in Fragen der Analyse von Veränderungen im Gewebe der Öffentlichkeit und gesellschaftlicher Kommunikation.

In seinem Buch „Faktizität und Geltung“ hat er kurz einen Faden aufgegriffen, der heute seine volle Wucht entfaltet hat. Er schreibt dort beispielsweise: „Die Personalisierung von Sachfragen, die Vermischung von Information und Unterhaltung, eine episodische Aufbereitung und die Fragmentierung von Zusammenhängen schießen zu einem Syndrom zusammen, das die Entpolitisierung der öffentlichen Kommunikation fördert. Das ist der wahre Kern der Theorie der Kulturindustrie“ (Frankfurt 1997 [1992], S. 456). Man wird aktuell im Zusammenhang mit der Ausbreitung der sozialen Netze leider feststellen müssen, dass dies immer perfekter funktioniert. Man kann auf der einen Seite den Eindruck gewinnen, dass noch nie so viel „über“ Politik in der Öffentlichkeit gesprochen wurde und muss dennoch feststellen, dass die Themenkreise dabei immer enger werden und tatsächlich Sachfragen hinter Personenfragen zurückfallen. Natürlich gibt es das im Kulturbereich auch, nur war es da schon immer präsent im Starsystem beispielsweise. Da wird über Barenboim geredet, wenn man eigentlich über Machtstrukturen im heiligen Tempel der (musikalischen) Kunst reden müsste. Nur: So funktioniert es heute! Anders lassen sich anscheinend grundlegende Probleme nicht mehr an die Oberfläche der Wahrnehmung tragen, um sie auf breiter Flur zu verhandeln.

Die (elementare) Musikpädagogik allerdings scheint davon kaum tangiert zu sein. In deren Zentrum stand schon immer die ästhetische Entwicklung von Menschen, ihre Sinnesentwicklung und Wahrnehmungsfähigkeit. Sensibilisierung! Gleichwohl ändert sich dieses Verhältnis zur Erfahrung durch schulische Anforderungen augenblicklich, wenn Wettbewerb und Messbarkeit ins Zentrum rücken – da werden die MINT-Fächer immer noch als Vorbild genommen. Prüfen und Messen gehen vor Erfahrungsammeln. Das ist bedauerlich. Ich würde so weit gehen, zu sagen: Bei der Ausbildung menschlicher Sensibilität und Ausdrucksfähigkeit handelt es sich dagegen um die Grundlage gesellschaftlichen Lebens, sie ist die Nullte Gewalt neben anderen unabdingbaren Fähigkeiten wie „gegenseitiger Fürsorge“.

Bei allem aktuellen Fokus auf die ökologischen Bedrohungen der Gegenwart, sollte man dementsprechend nicht in Vergessenheit geraten lassen, was die Soziologen Reimer Gronemeyer und Götz Eisenberg in ihrer Studie „Jugend und Gewalt“ (Hamburg 1993) geschrieben haben, dass „das Raubbauverhältnis des Kapitalismus zur äußeren Natur eine ökologische Krise von katastrophalem Ausmaß produziert hat. Aber so etwas wie eine ökologische Krise gibt es auch in Bezug auf die innere Natur des Menschen.“ Die Folgen zeigen sich in einer „Aggressivisierung und Brutalisierung in fast allen Lebensbereichen“.

Und jetzt mischt sich auch noch die technologische Entwicklung ein, die in sich selbst überschlagender Weise damit sich beschäftigt, wie sie die Menschen verüberflüssigen kann. Das führt zu der absurden Situation, dass sowohl die Technik wie die Natur ganz gut auf Menschen verzichten könnte. Umgekehrt wird es allerdings nicht gehen. Und wir? Wir haben andere Probleme. Wir brauchen unsere Probleme, damit wir uns nicht mit den elementaren Problemen beschäftigen müssen. Die Verzettelungsstrategie in Verbindung mit gleichzeitiger Verblindung durch Vorurteilsnahmen plättet das alles. 

Ich habe mal im Jahr 2000 geschrieben: „Nicht jeder Technikzug führt in die Zukunft und wer auf den ersten besten aufspringt, verhält sich wie ein Lemming. Er gibt seine Bedürfnisse auf und glaubt nur, das Bedürfnis nach Technik sei das einzig Erstrebenswerte. Dieses Bedürfnis ist aber inhaltsleer, eine sich selbst reproduzierende Fiktion, die durch den über das Marketing produzierten Konsumrausch nach dem Nichts weiter angefacht wird. Gegen diese Blendung und Verscheuklappisierung muss man wieder Lichter des Halts und der Orte anzünden, gerade auch in dem Terrain, das dieser Blendung Vorschub leistet. Denn gerade auch im Internet sind die Claims bislang nicht abgesteckt. Laut Shell-Studie ist Deutschlands Jugend nur zu 25 % online, nur 56 % Prozent haben einen Computer zu Hause.“ Ist passiert, aber anders als man vielleicht dachte.

Sagen wir mal, diese Jugend war im Jahr 2000 zwischen 10 und 20 Jahren alt, dann sind sie jetzt zwischen 34 bis 44 Jahre (was natürlich nur zufällig damit korreliert, in welcher Altergruppe die größte Anzahl an Wähler:innen einer bestimmten Partei bei der Europawahl 2024 sich findet.) 

Aber ich schweife ab. Lecker Texte in der aktuellen nmz. Online und in Print. Happy Birthday, Jürgen Habermas.
MH

Moment noch … Eine kurze Geschichte vom Verschwinden …

[Statista] Das Internet vergisst nichts, heißt es. Dem widerspricht eine Studie des Pew Research Centers, für die eine Million zufällig ausgewählter URLs ausgewertet wurden. Demnach waren 38 Prozent der untersuchten Links aus dem Jahr 2013 im Oktober 2023 nicht mehr erreichbar. Es braucht indes nicht zehn Jahre, um einen deutlich zweistelligen Webseiten-Schwund zu erreichen, wie der Blick auf die Statista-Grafik zeigt. So verursachen 32 Prozent der Links aus dem Jahre 2019 den Statuscodes 204, 400, 404, 410, 500, 501, 502, 503 oder einen ungültigen Statuscode. Dagegen ist der Anteil kaputter Links in den beiden letzten Jahren vergleichsweise niedrig – noch jedenfalls. [Link zum zur Grafik und zum Text]

Warum ist das interessant? Weil eine Vielzahl von KI ja fast nur aus dem digitalen Angebot gefüttert wird. Wenn man sich beispielsweise Perplexity.ai anschaut, was superaktuell ist.  Das Internet ist zwar angeblich beinahe unendlich groß, aber wie mit dem Weltall, das meiste davon ist das Nichts – also reine Information. Und wenn das Nichts dazu noch verschwindet, verschwindet über kurz oder lang dann das Netzwissen der KIs, weil es durch künstlich generiertes Wissen ersetzt wird. Die KI lernt sich selbst – ohne Input läuft da nichts und im Sinne von transformierendem und kreativem Lernen, ist da eher nichts.  Der Lerneffekt nimmt folglich ab. Aber das ist auch noch mal ein anderes Thema. 

PS:

  • Vor zehn Jahren starb Horace Silver - Señor Blues (Horace Silver, Blue Mitchell & Junior Cook - auf YouTube

nmz 2024/06


Gewaltiger Elefant im diskursiven Raum
Deutschlands Rundfunksinfonieorchester – ein Gang durch Programme und Konzepte öffentlich-rechtlicher Klangkörper – Von Bojan Budisavljevic

„Musik ist Heimat – zugehörig, vielfältig, verbindend.“ So hebt das brandneue Saisonheft 2024/25 des WDR Sinfonieorchesters mit dem Geleitwort des Intendanten Tom Buhrow an und führt weiter aus: „Musik und Heimat verankern sich bejahend im Laufe des Lebens und haben Bedeutung für das, was uns als Menschen ausmacht. [...] Das WDR Sinfonieorchester ist in Köln und NRW zuhause und geht als Botschafter in die Welt: Musik nimmt viele Perspektiven ein und betont das, was uns eint.“ Man könnte das als ein mittlerweile allgegenwärtiges pompöses Kulturmarketing-Gewäsch abtun, dessen sich manch eine Institution gerne bedient, entstünde allerdings aus diesen Worten der Leitungsperson nicht auch ein veritables Leitbild von menschelnd harmonisierender Kunstausübung und, ja, stünde da nicht seit dem 9. November 2022 dieser gewaltige Elefant im weiten diskursiven Raum gegenwärtiger Reformagenden des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hierzulande. 

„Ich kämpfe gegen alte Tabus“
Die Klangkünstlerin Yara Mekawei  – Von Sophie Emilie Beha

Yara Mekawei hat viel Wichtiges zu sagen, was im derzeitigen Diskurs über zeitgenössische Musik – hierzulande wie in ihrer Heimatregion – zu wenig vorkommt. Sie wurde 1987 in Kairo geboren und ist dort aufgewachsen. Seit drei Jahren lebt und arbeitet sie in Berlin. Ihre Arbeit ist extrem vielschichtig und vereint Vergangenheit und Zukunft, Tradition und Moderne, Analoges und Digitales.


BERICHTE


Wo Tragödie versagt, hilft Groteske – Ondřej Adámeks „INES“ an der Oper Köln uraufgeführt

Rainer Nonnenmann – Ein Teil des Gürzenich-Orchesters hat bereits die Plätze eingenommen und das Licht wird gedimmt. Nun sollte das Publikum langsam aber sicher still werden. Doch scheinbar unbeeindruckt plaudert man munter weiter. In Wirklichkeit dringt das Stimmengewirr aber längst aus Lautsprechern und führen vereinzelt verständliche Worte mitten ins Geschehen: … 

Sänger retten Szene – Tatjana Gürbaça inszeniert Halévys „La Juive“ an der Oper Frankfurt

Wolf-Dieter Peter – Leider erweist sich Fromental Halévys Grand Opéra von 1834 gerade dieser Tage wieder als „Zeitstück“. Leider ist alles „wieder da“ und damit aktuell: Die Grundspannung in Gesellschaften mit Todesstrafen für demgegenüber entrechtete Individuen, auch der Gewaltcharakter von zu realen Herrschaftsinstrumenten verkommenen Religionen – in all dem können …

Frauliches Kräfteringen: Das Wagner-Festival Sofia startete mit „Lohengrin“

Roland H. Dippel – Viermal gab es im zweiten Akt zu den imposanten Duett- und Solostellen des dunklen Paars Ortrud und Telramund lauten Szenenapplaus. In Richard Wagners Heimatregion, dem deutschsprachigen Mitteleuropa, gilt das als …


MELDUNGEN


Vertragsverlängerung für Münchner Opernchef Serge Dorny
Lange war gerätselt worden, wie es weitergeht an der Bayerischen Staatsoper. Bleibt das Führungsduo Dorny und Jurowski? Und wenn ja, wie lange? Darauf gibt es nun Antworten. …

SO EIN THEATER

PERSONALIA & ZEUGS

VERANSTALTUNGEN


HÖRBAR


Bernhard Sekles / Tehila Nini Goldstein

Michael Kube – Vor 15 oder 20 Jahres war der einst so bekannte Komponist Bernhard Sekles (1872–1934) nur noch jenen bekannt, die sich mit dem Hindemith, Adorno oder Rudi Stephan beschäftigten. Als deren pädagogisch hochmoderner Lehrer am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurter am Main, der die junge Generation nicht gängelte, sondern im eigenständigen Suchen kritisch begleitete, hat er später auch als …


nmz-Stellenmarkt (aktuell)



JazzZeitung


Die erweiterte Jazz-Radiowoche vom 17.06.2024 bis 23.06.2024

Martin Hufner – Jeden Sonntag gibt es um 12 Uhr unsere Übersicht für die jeweils nachfolgende Woche. Die #Jazz-Radiowoche vom 17. bis 23. Juni 2024. Auch als PDF zum Download – #Jazz #JazzZeitung #Radio #Radiowoche – Ein Service unserer Online-Redaktion. 


Radio-Tipps für die Woche


Heute Tipp:

23:05 bis 00:00 +++ Bayern 2
Nachtmix: Voices from planet LOVE – Astral Traveling and Cosmic Jazz


 

 


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