Newsletter der nmz 70 Jahre

Sehr geehrte Newsletterabonnentinnen und -abonnenten,

was für eine Woche. 

In Kassel sorgt eine Art Zauberflöte nach Wolfgang Amadeus Mozart für großes Brimborium und Stürme von Entrüstung auf allen Seiten der Beteiligten (von den Veranstaltern bis zum Publikum). Für uns saß Johannes Mundry im Publikum und partizipierte eifrig in der zweiten Aufführung mit, die anders vonstatten ging als die erste, was man hier nachlesen kann

In der ersten Reihe saß auch Philipp Lojak in der Vorpremiere zum Film „Tár“. In dem gehe es um „#metoo und Cancel Culture im Klassikbetrieb, Universalismus der Musik und Identität, Hierarchien und Machtmissbrauch innerhalb von Orchestern, Karrierismus und große Kunst. Dabei ist der Film wie eine Sinfonie Mahlers: Mitreißend, humorvoll, tragisch, rätselhaft“, schreibt er. Währenddessen geht schon die Diskussion des Films in den sozialen Netzen los – aber auch die Dirigentin Marin Alsop fühlt sich direkt angesprochen. Das Thema ist auf der Seite von Queer.de in seiner Komplexität ganz gut aufgearbeitet.

Das Problem ist immer ein Ähnliches: Fiktion trifft auf Realität trifft auf Fiktion. Leider scheint dieser Film mit den Anspielungen aus Fiktion auf die Realität deutlich zu arbeiten. Ein möglicher Fehler! Aber ich kann es nicht beurteilen, denn für gewöhnlich ist die Story nur ein Teil des Gesamtkunstwerkes „Filmkunst“. Es hilft also nix: Muss man wohl gesehen haben, um darüber zu sprechen. Also schweige ich.

Aber einen Vorschlag hätte ich schon: Wir lassen alle Dramen und Geschichten in Zukunft auf dem Mars spielen von Marsmenschen (nennt man die dann so?) und in Marsstädten und auf Marsinstrumenten. Dann gibt es bei den Marser Philharmonikern (nicht mit denen aus Marl oder jenen auf der Venus zu verwechseln) unter der Leitung von Andrea Mars mit Toni Marsini an der ersten allerersten Marsoline (kann man ja nicht das Geschlecht zuordnen) die gleiche Geschichte in Grün (was ja wohl die Farbe der Marswesen angeblich sein soll auf diesem roten Planeten).

Für die nmz saß auch Mathis Ubben bei einer Veranstaltung der Ernst von Siemens Musikstiftung in der Münchner Akademie der Schönen Künste. Worüber gestritten wurde? Über die aktuelle Lage der Neuen Musik: den Herausforderungen für Veranstalter*innen und Künstler*innen, zu Diversität und der Rolle der Förder-Institutionen. Und über den Einfluss der Institutionen auf die Entwicklung der Neuen Musik.

Und dann kommen wir zu traurigen Momenten der letzten Tage: Verstorben sind Mary Bauermeister, Peter Weibel, Wayne Shorter („Aung San Suu Kyi“ zusammen mit Herbie Hancock auf Spotify)und Pete Zeldman („Eyelid Movies“ auf Spotify).

Über den Schlagzeuger Zeldman zitiert Gerwin Eisenhauer Cindy Shapiro mit den Worten: „If Bach tempered the scale, Pete Zeldman tempered time. I will love him throughout eternity, where he is no doubt subdividing 36 over 37 right now, and confusing some of the angels to no end.“

Ssirus Pakzad in der nmz zu Wayne Shorters 80. Geburtstag:

Kaum ein noch lebender Musiker hat solche „Footprints“ in der Jazzgeschichte hinterlassen, solche tiefen Fußspuren, die man mit Gips ausgießen und in den Museen für die Nachwelt erhalten sollte.“

Bert Noglik in der JazzZeitung 2003 zu Shorters 70. Geburtstag:

Zum Erstaunlichen an der akustischen Renaissance von Wayne Shorter zählt, dass er mit so anspruchsvollen Klängen eine solche Resonanz in der oft an stromlinienförmig gestylten Produkten orientierten Verkaufswelt des Jazz hervorzurufen weiß.“

Nun kommen Sie gut über das Wochenende.


IN EIGENER SACHE

JukeBoxx NewMusic Award - Spielort für Medienkunst und Gegenwartsmusik

Die Christoph und Stephan Kaske Stiftung und die nmz fördern mit dem JukeBoxx NewMusic Award nicht nur individuelle Einzelkompositionen, sondern insbesondere auch Arbeiten, die aus der Kooperation zwischen Komponisten der E-Musik und bildenden Künstlern aus dem Bereich der Medienkunst entstanden sind. Ausgewählter Musikvideos werden jetzt auf dem Internationalen Kurzfilmfestival Regensburg präsentiert – Kommen Sie vorbei. Weiterlesen


KRITIK

Partizipativ, postdramatisch-performativ – Die „Zauberflöte“ am Kasseler Staatstheater als Volkshochschulkurs zur Opernregie

Das Kasseler Staatstheater verheddert sich bei Mozarts „Zauberflöte“ in einem verworrenen Ideenknäuel. Das Publikum wird belehrt statt ernstgenommen. Weiterlesen

Eleganz, Video, Schönheit: Ambroise Thomas’ „Hamlet“-Oper in Liège

In Deutschland hat es Ambroise Thomas’ Grand opéra „Hamlet“ nach Shakespeare schwer. Das könnte sich in der Renaissance des Genres derzeit bald ändern. Das 1863 begonnene und 1868 als letzte Produktion in der Pariser Opéra Le Peletier herausgekommene Werk ist neben Charles Gounods „Roméo et Juliette“ die bedeutendste französische Shakespeare-Oper des mittleren 19. Jahrhunderts. Die Opéra Royal de Wallonie-Liège zeigte eine Ko-Produktion mit der Opéra Comique Paris, dem Peking Musikfestival und dem Kroatischen Nationaltheater Zagreb. In Liège triumphierte eine kongeniale, ideale Besetzung mit Jodie Devos, Lionel Lhote, Nicolas Testé und Béatrice Uria-Monzon in den Hauptpartien. Guillaume Tourniaire dirigierte mit stilkundiger Eleganz, Cyril Teste inszenierte mit strukturierender Sinnfälligkeit. Weiterlesen

Der Einfluss der Institutionen und die Freiheit der Geister: Neue Musik, wohin?

Seit ihrer Gründung im Jahr 1972 ist die Schweizer Ernst von Siemens Musikstiftung mit einer jährlichen Fördersumme im mittleren einstelligen Millionenbereich einer der weltweit bedeutendsten Geldgeber der Neuen Musik. Als Jubiläums-Auftakt veranstaltete sie eine Podiumsdiskussion zur aktuellen Lage der Neuen Musik: den Herausforderungen für Veranstalter*innen und Künstler*innen, zu Diversität und der Rolle der Förder-Institutionen. Weiterlesen

Was mir die Macht erzählt – Cate Blanchett als Dirigentin im Kinofilm „Tár“

Mit „Tár“ touchiert der neue Film von Todd Field mit Cate Blanchett in der Hauptrolle der fiktiven Dirigentin Lydia Tár Diskurse der klassischen Musikwelt: #metoo und Cancel Culture im Klassikbetrieb, Universalismus der Musik und Identität, Hierarchien und Machtmissbrauch innerhalb von Orchestern, Karrierismus und große Kunst. Dabei ist der Film wie eine Sinfonie Mahlers: Mitreißend, humorvoll, tragisch, rätselhaft. Weiterlesen

Düsteres Regietheater zu rauschhafter Musik – Karol Szymanowskis „König Roger“ in Kiel

Die Oper Kiel hat sich mit Karol Szymanowskis „König Roger“ eines Werkes angenommen (Premiere 25. Februar 2023), dessen Besonderheit schon darin liegt, dass es kaum gespielt wird. Das hat seine Gründe. Ein Theater muss in der Lage sein, die Außenseiter- und Ausnahmemusik des in der Ukraine geborenen Polen darstellen zu können, mehr noch muss es einen Regisseur finden, der die Handlung bühnenwirksam aufbereitet, die im Kern ein innerer Konflikt ist. Weiterlesen 

Politik braucht die große Bühne – „Nixon in China“ von John Adams in Dortmund

An der Oper Dortmund landete Richard Nixon nach einem halben Jahrhundert noch einmal in Peking: Martin G. Berger inszeniert „Nixon in China“ von John Adams als Revue der Erinnerung. Weiterlesen


Michael Kubes HörBar 78 – Winterreise

Bevor es Frühling wird, rasch noch eine «Winterreise», mag mancher denken. Musikalisch zielt das natürlich auf Schuberts Vertonung der gleichnamigen Müller’schen Verse – ein Meisterwerk der hohen Liedkunst, des Kunstliedes wie auch des Liederzyklus’. Und so darf es nicht verwundern, dass der Einspielungen inzwischen Legionen sind. Vielfach spiegeln die Interpretationen die sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wandelnden Sichtweisen und Vorlieben der Sänger – und der Sängerinnen. Es gibt dabei allerdings einige Aspekte, die auch heute noch einen genaueren Blick wert sind sind: Wie steht es mit den oft anfallenden Transpositionen? Sind sie bloß bequem oder von Lied zu Lied analog der originalen Tonartenfolge? Wie interagieren Stimme und Klavier? Was wird aus den Worten herausgeholt?

Franz Schubert. Winterreise D 911. James Rutherford (Bariton), Eugene Asti (Klavier). BIS BIS-2410 (2018)

Die Einspielung mit James Rutherford ist sich der ersten Frage vollauf bewusst und räumt jede Überlegung dazu im Booklet gleich unterhalb der Trackliste ab: «The cycle is performed with all songs transposed a minor third down, thereby retaining the original relationships between the individual songs.» Wunderbar, möchte man sagen, wenn da nicht doch der Gesamtcharakter der Lieder seltsam erdig klingen würde (sie sind im Original für Tenor geschrieben). …

Franz Schubert. Winterreise D 911. Benjamin Bruns (Tenor), Karola Theill (Klavier). hänssler classics HC 19025 (2018)

Missverständlich wird es daher, wenn die Stimme zur ursprünglichen Klavierbegleitung zu groß geführt wird, sinfonische Farben und Fülle mitgedacht werden. Dieser Eindruck jedenfalls drängt sich bei der Interpretation dieser winterlichen Reise von Benjamin Bruns auf. Denn seine Präsenz drückt fallweise so sehr, dass sich Schuberts feinsinniges Spiel mit den Worten nicht frei entfalten kann, die mehrdimensionale Tiefe der Komposition vielfach verschlossen bleibt. …

Franz Schubert. Winterreise D 911. Joyce DiDonato (Mezzo), Yannick Nézet-Séguin (Klavier). Erato 0190295284145 (2019)

Eine wirklich relevante Frage stellt Joyce DiDonato: «Aber was ist mit ihr?» Ihr bald folgender Verweis auf Charlotte in Goethes Werther (auch hier bleibt alles weitere unklar) mag nahe liegen – aber so richtig will all das nicht aufgehen. Natürlich sollte Schuberts Winterreise allen weiblichen Stimmen nicht verwehrt bleiben – das Setup aber sollte man sich nicht unnötig verkrampfen. Denn warum sollte der einsame Wanderer im 21. Jahrhundert nicht auch eine Wanderin sein? …

Franz Schubert. Winterreise D 911. Arttuu Kataja (Bariton), Pauliina Tukiainen (Klavier). Alba ABCF 509 (2021)

Auch wenn sie für Bariton tiefer transponiert sind, so gelingt es Arttuu Kataja auf faszinierende Weise, die einzelnen Lieder nicht in eine «dunkle Tiefe» abgleiten zu lassen und «schwarz» zu deuten, sondern sie unaufgeregt unspektakulär für sich und seine Stimme zu adaptieren. Dies unterstützt der vergleichsweise sparsame und nie forcierte Ausdruck, der kaum aufträgt, sondern bei klarster, quasi muttersprachlicher Artikulation farblich stark nuanciert. Hinzu kommt die präzise Interaktion mit Pauliina Tukiainen am Klavier, das selten so warm, so direkt und zugleich so kammermusikalisch zu hören ist (etwa in Rückblick). …

Franz Schubert. Winterreise D 911. Benjamin Appl (Bariton), James Baillieu (Klavier). Alpha ALP 854 (2021)

Wie so oft im Leben kommt es auf die Perspektive an. Statt konservativ die Stirn zu runzeln, sollte man eher das Ganze überblicken und nach dem Kern der Interpretation suchen. Und da zeigt sich Appls Deutung als erstaunlich schlüssig, gerade in ihrer Subjektivität, die hinter den Worten in die Seele blickt, in der sich Abgründe auftun. Manieristisch ist dies nicht, auch wenn mitunter die Gefühlstemperatur von Takt zu Takt wechselt …


Aus der JazzZeitung


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Martin Hufner

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