Liebe Newsletterabonnent:innen, die Juni-nmz liegt zwar buchstäblich noch nicht vor der Tür, aber sie steht im übertragenen Sinne davor. Die Links zu aktuellen Texten auf nmz.de deshalb weiter unten und hier erst ein paar Gedanken, die ich mir immer wieder im Zuge von Festival-Berichten, wie sie morgen in der neuen Ausgabe oder aktuell auf nmz.de stehen, mache. Das soll nicht zur Gewohnheit werden – keine Sorge. Die Tätigkeit mehrere Texte, Bilder und andere Inhalte von Drucksachen zur druckfähigen Seite zusammenzustellen nennt sich “Umbrechen”. In einer kleinen Redaktion, wie sie ein besonderes Nischen-Blatt wie die neue musikzeitung naturgemäß hat, fällt dieser Arbeitsschritt zwischenzeitlich auch mit dem Redigat zusammen – also der sprachlichen, inhaltlichen und stilistischen Durchsicht des jeweiligen Textes. Dabei – und wir nähern uns hiermit dem Punkt! – kann es sein, dass man sich beim Umbrechen “einen abbrechen” muss: Nämlich dann, wenn es sich um das dreht, was gemeinhin als “Neue Musik” verstanden wird und man aber präzise Begrifflichkeiten verwenden möchte. Denn das Wesen oder sogar die Existenzberechtigung von sogenannten zeitgenössischen Kompositionen (im Sinne einer gegenwärtigen Kunstmusik) ist der experimentelle Charakter. Das Unterscheidet dieses Feld vom großen “Neo”-Bereich im Sinne von Neo-Klassik, -Romantik, und auch -Moderne. Und eins der wesentlichen Merkmale eines guten Experiments ist seine Offenheit. Das Kultivieren dieser Offenheit hat, so beobachte ich es, in manchen Kreisen den Status einer mentalen Bildungsbürgertum-Auszeichnung erreicht – als deutlicher Gegenentwurf zu einem oft politisch-konservativ assoziierten Traditionalismus. Diese kultivierte Offenheit und die parallel existierende notwendige Offenheit experimenteller Musik führt nun dazu, dass sich die Szene und Künstler*innen dermaßen diversifizieren, dass ein immer größerer Teil sich nicht der Neuen Musik, als Epoche- oder Gattungsbegriff, zugehörig fühlen. Das sich auch in den Werken widerspiegelt: Während in den Partituren der Neuen Musik alle von den jeweiligen Komponist*innen erdenklichen Muster, ohne die noch von Musik die Rede sein konnte, über Bord geworfen wurden, geht es heutzutage immer häufiger der Partitur selbst an den Kragen. Dabei war die Notation – oder die nötigen erweiterten Notationszeichen – einst ein gängiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Neuer Musik (im Sinne zeitgenössischer Komposition) und anderen auch experimentellen Stilen. “Zeitgenössische Komposition” ist insofern also nicht immer treffend. Das, was aktuell allerdings in Festivals und mittels “Uraufführungs-Stempel” auf entsprechenden Bühnen zur Neuen Musik zugehörig behandelt wird, ist – sinnvoller weise – so weit geöffnet, dass die Urheber*innen selbst sich von der Neuen-Musik-Tradition insofern abgrenzen, als dass sie nicht den Kreisen klassischer Tradition stammen und diesen stilistisch entkommen wollen oder auch authentisch können. Andere begriffliche Versuche – die auch ich regelmäßig unternehme – schlagen ebenso fehl: “Experimentelle Musik” kann – je nach Ausgangslage des Experiments – auch den seltenen Fall eines progressiven Schlager-Songs bedeuten und die Begriffe “Gegenwartsmusik” oder “aktuelle Musik” sind sowohl schwammig, als auch im Abgleich zu ihren Gegenteilen “Vergangenheitsmusik”, “Geschichtsmusik” oder “veraltete Musik” wertend und wenig treffsicher. Bei der “Klassik” haben wir uns längst daran gewöhnt, oft ohne Präzisierung, schnell verstehen zu können, wann es sich um den Oberbegriff (=in Noten überlieferte europäisch-tradierte Musik des 17. bis 20. (und im Sinne einer Neo-Neuen Musik auch 21. oder in anderen Fällen nur bis zur Mitte des 20.) Jahrhunderts) handelt und wann die tatsächliche Epoche gemeint ist. Das ist etwas, wovon ich glaube, dass es mit der “Neuen Musik” ähnlich passieren könnte: Die Nutzung als Gattungs- und auch Oberbegriff. Das allerdings mit einem riesigen und schwierigen Unterschied: Die Komponist*innen beziehungsweise Künstler*innen leben noch und kommen wie gesagt immer öfter nicht aus der “klassischen” Tradition, die der Begriff “Neue Musik” aber suggeriert. Für das Publikum funktioniert dann zwar die Abgrenzung von zeitgenössischer “Kunstmusik” zu Werken der jüngeren und älteren Musikgeschichte, sie sind aber dennoch auf einen Bezug zu diesem spezifischen Zweig der Musikgeschichte – dieser klassischen Tradition – eingestellt. Eine Perspektive, die den Urheber*innen teils wegen ihres künstlerischen und biographischen Werdegangs fehlt und die entsprechend dann auch nicht zielführend in der Musik gehört werden kann. Wenn Sie das nächste mal also über ungewohnte oder teils noch nie benutzte Begriffe stolpern, die versuchen das, was bildungs-umgangssprachlich – ja, jetzt ist es komplett abgedreht – unter “Neue Musik” läuft, treffender zu benennen: Jetzt haben Sie vielleicht eine Idee, warum es sinnvoll sein kann, es nicht einfach “Neue Musik” zu nennen, auch wenn die alternative Bezeichnung vielleicht auch nicht direkt zur Klarheit beiträgt… Sollten Sie den ungewöhnlichen langen Newsletter-Text nicht weggescrollt haben, weil Sie an der Thematik gedanklich dran sind oder diese Mail an jemanden weitergeleitet haben, von dem Sie glauben, dass er dran sein könnte, dann würde ich mich über Begriffs-Vorschläge via Mail freuen: ubben@nmz.de. Jetzt Ihnen noch ein schönes Wochenende und viel Spaß beim Link-Stöbern! nmz Online
Bechers Bilanz – Mai 2024: Köln braucht Acht Brücken Christoph Becher – Das Kölner Neue-Musik-Festival Acht Brücken wird gerne gelobt, aber nur halbherzig unterstützt. Dabei müsste eine Millionenstadt ohne vorzeigbare Pflege der zeitgenössischen Musik als kulturell verarmt gelten … Das Musikinstrument des Jahres 2024: Tuba – Teil 5: Himmelwärts Ralf-Thomas Lindner – Mit einem Augenzwinkern könnte man die „besondere“ Aufgabe der Tuba in den Evangelischen Posaunenchören versuchen zu beschreiben. Denn natürlich geht es bei kirchlichen Musikanten immer um die Dopplung, Gott und Menschen erreichen zu wollen… BadBlog of Musick
Die Abschaffung des Kulturradios – Folge 16: Arno Lücker zerlegt hier (leider ohne die Not von großen Anstrengungen) die esspapierne “Argumentaion” hinter der Reform von rrbKultur zu “radio3”. nmz 2024/05
Ausgabe 5/24 im Überblick
Theos Kurzschluss
Theo Geißler – Eigentlich sollte es mich ja beruhigen, dass die sogenannte „Letzte Generation“, auch „Zoomer“ genannt, nur mit dieser Bezeichnung belegt ist, weil das (lateinische) Alphabet mit dem 26. Buchstaben „z“ endet. … JazzZeitung
„Plateaux“ – neues Album von Clara Habercamp Michael Scheiner – Magische Piouretten und Klangschürfungen Im Downbeat-Magazin hat der Musikjournalist Joe Woodard die deutsche Pianistin Clara Haberkamp mit Brad Mehldau verglichen. Ob die Musikerin und seit kurzem Musikwissenschaftlerin, die zudem auch noch singt, davon beeindruckt war, darüber kann mehr oder weniger eifrig spekuliert werden. Immerhin rückt sie eine solche Bemerkung in musikalisch-olympische Höhen. … Moers Festival 2024 – Klare Distanzierung vom ideologischen Schwarzweiß! Stephan Pieper – „Henn, Türk & Toxodon haben jetzt zugegeben“ begeistern mit Musik und Lesung. © Stefan Pieper Das Moers Festival 2024 bot erneut Zuflucht vor dem Welt-Wahnsinn und erwies sich dabei als besonders avantgardelastig … MELDUNGEN
MUSIK, MARKT, MEDIEN
FORTBILDUNG / VERANSTALTUNGEN
PERSONALIA Neuerscheinung bei ConBrio
Isolde Schmid-Reiter & Aviel Cahn (Eds.): Belcanto – Tradition and Fascination Today Schriften der Europäischen Musiktheater-Akademie, Bd. 15. 224 Seiten, Paperback, zahlreiche Fotos, CB 1305. ISBN: 978-3-949425-05 – € 29,00 Michael Kubes HörBar 119 - La femme
Nadia & Lili Boulanger / Lucile Richardot Sie gehören zu jenen Komponistinnen, die in den vergangenen Dekaden nicht erst «wiederentdeckt» werden mussten. Vielmehr ist die Musikgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (und nicht allein die der französischen, sondern auch die der amerikanischen) kaum ohne den Einfluss von Nadia Boulanger (1887–1979) als einflussreiche Pädagogin von zu denken… Weitere Einspielungen von Komponistinnen-Werken rezensiert Michael Kube hier: nmz-Stellenmarkt (aktuell)
Radio-Tipps für das Woche 09:04 – 10:00 Uhr +++ SWR Kultur Musikstunde Von Babette Michel. Musiker*innen des Jazz und der indischen Musik haben etwas gemeinsam, findet Babette Michel: Sie sind neugierig und mögen sich! Die Liebe zur karnatischen Musik hat Charlie Mariano in sein Saxofonspiel einfließen lassen. Die Suche nach den eigenen Wurzeln hat den deutsch-indischen Pianisten Jarry Singla nach Mumbai geführt. Die Freude am Improvisieren bringt die Band Shakti nach 50 Jahren wieder zusammen. Neue Wege mit der Langhalslaute Sitar gehen Hindol Deb, das Trio Benares und die Band Ragawerk, während der Jazzmusiker Baiju Bhatt den Klang der Geige mit indischen Einflüssen versieht. Bleiben Sie uns treu. Wenn Sie wünschen, empfehlen Sie uns per Mail weiter. Der Newsletter gibt die Meinung des Redakteurs wieder. neue musikzeitung
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