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Meinungsfreiheit, Kritik und Argument

Es wird viel aktuell über die Garantie einer Meinungsfreiheit, bzw. deren Gefährdung gesprochen. Das ist einerseits gut, denn die grundgesetzliche Garantie der Meinungsfreiheit gehört zentral zum Wesen aufgeklärter Gesellschaften. Aber zugleich sollte man doch andererseits aufpassen, dass man damit nicht alles Gesagte zur “bloßen Meinung” degradiert, wo es um doch Handlungen der Vernunft und der Aufklärung, kurz: Argumente geht. Der Philosoph Adorno hat in einem Essay unter dem Titel “Meinung Wahn Gesellschaft” ein Feld aufgespannt, in dem er Vernunft gegen Meinung und Glauben verteidigt.

Weil, der lieben Wahrheit zu Ehren, alle Wahrheiten doch bloß Meinungen seien, weicht die Idee von Wahrheit der Meinung.”

Meinung werde schnell zur Rechthaberei.

Der Rechthaber entwickelt, um nur ja die narzißtische Schädigung von sich fern zu halten, die ihm durch die Preisgabe der Meinung widerfährt, einen Scharfsinn, der oft weit seine intellektuellen Verhältnisse übersteigt. Die Klugheit, die in der Welt aufgewandt wird, um narzißtisch Unsinn zu verteidigen, reichte wahrscheinlich aus, das Verteidigte zu verändern.”

Dagegen wendet Adorno ein:

Vernunft ist unter keinen allgemeineren Begriff von Glauben oder Meinung zu subsumieren. Sie hat ihren spezifischen Gehalt an der Kritik dessen, was unter diese Kategorien fällt und an sie sich bindet.“

Man sollte sehr gut aufpassen, dass genau der oben beschriebene Prozess nicht das ganze Denken in der Gesellschaft erfasst. Das komplexe Verhältnis ist hier natürlich nicht als Streiflicht aufzudröseln. Adorno konnte es sowieso viel präziser fassen:

Keine Freiheit ohne die Meinung, die von der Realität abweicht; aber solche Abweichung gefährdet die Freiheit. Die Idee der freien Meinungsäußerung, die von der Idee einer freien Gesellschaft gar nicht getrennt werden kann, wird notwendig zu dem Recht, die eigene Meinung vorzubringen, zu verfechten und womöglich durchzusetzen, auch wenn sie falsch, irr, verhängnisvoll ist. Wollte man aber darum das Recht der freien Meinungsäußerung beschneiden, so steuerte man unmittelbar auf jene Tyrannei los, die freilich mittelbar in der Konsequenz von Meinung selbst liegt.“ (Alle Zitate: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 8360 ff., (vgl. GS 10.2, S. 582 ff.).

Warum das hier? Nun, wir bringen hier natürlich Kritiken von reflektierenden Kritikerinnen zu Musiktheaterstücken oder Festivals. Es wäre allerdings falsch, anzunehmen, dabei handle es sich nur um persönliche Meinungen. Gewiss sind die Kritiken subjektiv an die Autorinnen gebunden, das macht sie aber eben nicht entbehrlicher oder beliebig. Kritik kann natürlich nur dann funktionieren, wenn sie mit Argumenten der Vernunft ausgestattet ist zu denen man sich als Leserin (oder als Künstlerin) verhalten kann. Jedoch mindestens auf dem gleichen argumentativen Niveau. Kritik muss immer am Gegenstand sich orientieren, den sie erkennen kann, wie er sich der Kritikerin konkret darstellt. Welche Wertungen man daraus ziehen will, darüber lässt sich streiten, vor allem aber vernünftig und mit Maß.

Jetzt zu unseren Kritiken und den Neuigkeiten aus dem Musikleben.

Der Tag des Zorns im Dienste des Durstes – György Ligetis „Le Grand Macabre“ in Dresden

Heute: Der Weltuntergang. Zur Dresdner Erstaufführung von György Ligetis Anti-Anti-Oper „Le Grand Macabre“ wurde mit den Füßen abgestimmt. Die Abrechnung mit dem künstlerischen Establishment passt bestens zur Untergangsstimmung unserer Tage. Beobachtungen von Michael Ernst.

Naturalismus versus Abstraktion – „Lady Macbeth von Mzensk“ in Frankfurt

Eine gegen dominierende patriarchale Strukturen mörderisch aufbegehrende Frau und der direkt über den massiven Blechbläsern samt Schlagwerk sitzende Stalin samt Parteientourage – das musste 1934 lebensgefährlich schief gehen: der 28jährige Dmitri Schostakowitsch fürchtete fortan um sein Leben. Das ist vorbei – doch in unseren „#metoo“-Zeiten ist das Werk virulenter denn je – weshalb unser Kritiker Wolf-Dieter Peter auf eine sehr „heutige“ Deutung hoffte.

„IchundIch“ von Johannes Harneit an der Staatsoper Hamburg uraufgeführt

Der Staatsoper Hamburg ist mit einer Uraufführung ein mitreißender Erfolg gelungen. Mit dem Kompositionsauftrag für den Komponisten und Dirigenten Johannes Harneit setzte dieser einen schon lebenslangen Wunsch um. Er vertonte das Drama „IchundIch“ der jüdischen Dichterin Else Lasker-Schüler, die sich in ihrem im Exil in Palästina Stück mit dem Untergang der „Nacis“ – so ihre Orthographie – beschäftigt. Ute Schalz-Laurenze war für die nmz dabei.

nmz-Podcastpartnerin Irene Kurka
55 - Interview mit Johannes X. Schachtner

Komponist und Dirigent. Johannes Schachtner erzählt hier, wie er zur neuen Musik gekommen ist und wann und wie er angefangen hat zu komponieren. Er berichtet davon, was es heißt, sich wirklich in ein Werk mit voller Offenheit hineinzubegeben. 2015 hat er das Jugendensemble Jumble für neue Musik in Bayern gegründet. Direkt zum Podcast.

Was sonst noch wichtig war oder wird …

Radio-Tipp

23:03 – 24:00 | Ö1
Die junge Generation bei Wien Modern 2019

Das Black Page Orchestra mit neuen Werken von Kay Duncan David, Matthias Kranebitter, Sarah Nemtsov, Jorge Sánchez-Chiong u.a. Das 2014 in Wien gegründete Black Page Orchestra bezeichnet sich selbst als „Ensemble für radikale und kompromisslose Musik unserer Zeit“. In den fünf Jahren seines Bestehens hat es sich durch seine experimentierfreudige und vielseitige Programmgestaltung einen fixen Platz in der Veranstaltungsszene erarbeitet. Gründungsmitglied Matthias Kranebitter hat für Wien Modern einen Abend kuratiert, in dem vor allem die jüngere Generation von Komponistinnen und Komponisten vertreten war: Vom postdigitalen, binären Minimalismus bei Kaj Duncan David bis zum hart zugreifenden Punkrock-Gestus bei Hikari Kiyama bewies das Black Page Orchestra Mut zur Farbe. Auch die diesjährige Erste Bank Kompositionspreisträgerin Mirela IviÄeviÄ war der Gründung des Black Page Orchestra beteiligt. Sie war in diesem Konzert mit „Scarlet Song“ vertreten.

Die Radiowoche bis zum 10.11.2019

Erinnerung

525. Geburtstag von Hans Sachs · Sänger, Dichter, Schriftsteller, Schuhmacher, Komponist, Meistersinger (* 5. November 1494 in Nürnberg/Heiliges Römisches Reich – † 19. Januar 1576 in Nürnberg/Heiliges Römisches Reich)

100. Geburtstag von Horst Wende · Komponist, Dirigent (* 5. November 1919 in Zeitz – † 23. Januar 1996 in Hamburg)

60. Geburtstag von Bryan Adams · Musiker, Textdichter, Komponist, Popsänger (* 5. November 1959 in Kingston/Ontario)

30. Todestag von Vladimir Horowitz · Pianist (* 1. Oktober 1903 in Berditschew bei Kiew – † 5. November 1989 in New York City/New York)


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