Newsletter der nmz - Martin Hufner

 Liebe Leserinnen und Leser,

«Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.» (Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, 1940)

Immer wenn ich diese These von Walter Benjamin zu verstehen versuche, scheitere ich an meinen begrenzten Fähigkeiten, komplexe Sachverhalte zu erfassen, die über einfache Aussagesätze wie „Es ist Schnee gefallen“ hinausgehen. Doch selbst in solchen Sätzen steckt viel mehr Unschärfe als man gemeinhin annehmen könnte. Verstehen ist niemals einfach, Nichtverstehen ist einfach. Einfach ist es dagegen deshalb, zu poltern, wenn man nämlich nichts bis wenig von einer Sache versteht, denn man hat schließlich (zur Not) eine Meinung und gegebenenfalls eine laute Stimme und dazu, je nach Macht, einen Resonanz-Chor, der da miteinstimmt. 

Arno Lücker hat mit seinem Beitrag zum „Bad Blog Of Musick“ über die gegenderte Zauberflöte diese zunehmende Verödung des Nachdenkens wunderbar vorgeführt. Nicht nur, dass es Menschen gibt, die diese Satire als Wahrheit wahrnehmen, wer ist denn nicht täuschbar, sie nehme sie für bare Münze, damit sie ihnen als Sprungbrett für das obengenannte Verhalten des Poltern und Krawallens nutzen können. Im Zeitalter instantaner Kommunikationsmittel und der Sendefähigkeit fast aller Individuen in die Öffentlichkeit hinein, ergibt sich eine Popanzbildung, die man früher einmal einfach weggelächelt hätte. Gegenwärtig formiert sie sich zu Blöcken massiver Bedrohungen.

Ja, heute nacht ist in Kleinmachnow Schnee gefallen und ich habe den Fußweg vor dem Haus freigeschippt, damit nicht jemand auf dem Schnee und dem nicht sichtbaren vereisten, glatten Boden darunter zu Fall kommt. Dafür kommt „Streu“ darauf, das angeblich völlig menschen- und tierpfotenfreundlich ist. Aber knirscht und in Ritzen von Sohlenprofilen sich ansammeln kann und damit vielleicht jemandes Parkett zerkratzen könnte. Es ist fast unmöglich, eine Katastrophe dadurch allein zu verhindern, dass man sich bloß „vernünftig“ verhält. Aber deshalb das Unwahrscheinliche genauso hoch werten wie das Erwartbarere? Das wäre absurd. Aber was waren das noch für Zeiten, als man großes Unheil darin erwartete, dass man sich zu Tode amüsieren würde.

Lesen Sie zum 100. Geburtstag von György Ligeti in dieser Woche in der HörBar der nmz die genauen Hörerkundungen von Michael Kube. Ich finde es immer wieder faszinierend, was man alles in Worte fassen kann, wenn man genau hinhört. Differenziert hinhört. Und mithinhört dann.

Vor 84 Jahren am 26. September 1940 „nahm sich der jüdische Schriftsteller Walter Benjamin das Leben. Ihn trieb die schiere Not: Denn nach einer beschwerlichen Flucht sollte er zurück nach Frankreich geschickt werden, wo die Gestapo auf ihn wartete. ‘Mein Leben wird ein Ende finden in einem kleinen Dorf in den Pyrenäen, wo mich niemand kennt’, schrieb er in seinem Abschiedsbrief an Theodor W. Adorno.“ Lesen Sie hier weiter.

Ich vergesse niemals mehr Sprachsequenz am Ende des Hörspiels „Muttersprachlos“ von Juan Allende Blin in der der Sprecher sagte: „Wer hören will, der hört auch aus der Ferne. Wer nicht Hören will, der hört auch aus der Nähe nicht.“

Kommen Sie gut durch die Woche.
Ihr Martin Hufner


nmz 2023/11


Jede Maschine ist ein Künstler!“ - Oder: Musik im Zeitalter ihrer technischen Produzierbarkeit · Von Philipp Lojak

Ein Raunen geht durch die Kreativbranche. Es handelt sich dabei um eine plötzlich verloren gegangene Gewissheit, nämlich, dass kreative Arbeit niemals durch Maschinen zu ersetzen sein wird. Mit der künstlichen Intelligenz, namentlich ChatGPT, hat sich das in sein Gegenteil verkehrt. Die sogenannten „Large Language Model“ (LLM), dazu gehören ChatGPT und einige andere, beherrschen menschliche Sprachen virtuos und können damit kreative Aufgaben besonders gut lösen: Sie schreiben Gedichte, journalistische Texte, Theaterplots. Web- und Grafikdesigner könnten ihre Jobs verlieren, befürchten Experten. Sogar Juristen. Was die Welt stattdessen braucht: Prompt-Ingenieure, Menschen, die die künstliche Intelligenz bedienen. …


BERICHTE / KOMMENTARE


Theos Kurz-Schluss
Wie ich einmal dank Neustrukturierung des Jahres den Weihnachtsstress abbaute

Nachdem die Jahreszeitenzählung und Festtagsanerkennung aus sozialer und damit kommerzieller Sicht etwas undurchschaubar geworden ist, lohnt vielleicht der Versuch einer dem natürlichen Klimawandel nur bedingt unterworfenen Neuordnung: Beginnen wir mit der Wandlung des eigentlich besinnlichen, protestantisch keusch definierten Buß- und Bettages über den Schmus- und Betttag hin zum mittlerweile ganzjährig geltenden Halloween. …

Bad Blog Of Musick
Die gegenderte »Zauberflöte« – Die Reaktionen im Netz


MELDUNGEN


Deutscher Musikrat kritisiert Bayreuther Einsparungen

Bayreuth - Der Deutsche Musikrat kritisiert geplante Einsparungen beim Chor der Bayreuther Festspiele scharf. «Der Deutsche Musikrat fordert die Leitung der Bayreuther Festspiele auf, für den Erhalt ihres traditionsreichen Festspielchores zu kämpfen», sagte Generalsekretär Christian Höppner laut Mitteilung vom Montag. …

Nach 65 Jahren wieder am Nationaltheater Kosice: Richard Wagners Tannhäuser

Anders als im deutschsprachigen Raum gibt es im slawischen Osteuropa (mit wenigen Ausnahmen wie Budapest) keine lückenlose Aufführungstradition für die Opern Richard Wagners. Die bipolare Wirkungsgeschichte der Bayreuther Festspiele und des rechtskonservativen Bayreuther Kreises, die Verflechtungen zwischen Winifred Wagner und Adolf Hitler sowie …

Musikalische Fragmente aus KZ Auschwitz werden in London gespielt

London - Musikalische Fragmente einer Partitur, die im deutschen Konzentrationslager Auschwitz entdeckt wurden, werden in London zum ersten Mal aufgeführt. Das Kammerorchester Constella und die Solisten Philippa Mo, Ilona Suomalainen und Sacha Rattle sollen die Stücke am Montag spielen, heißt es auf der Internetseite des Theaters Sadler's Wells …

Kulturministerin Binz: Musikschulen müssen auf Veränderungen reagieren

Mainz - Die Musikschulen müssen nach Einschätzung der rheinland-pfälzischen Kulturministerin Katharina Binz auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren. «Der Landesverband der Musikschulen erstellt - auch in Absprache mit uns - gerade ein Zukunftskonzept», sagte die Grünen-Politikerin im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur in Mainz. …

Fertigstellung der Kölner Bühnen verzögert sich weiter

Köln - Die jahrelange Sanierung der Kölner Bühnen verzögert sich erneut: Fertigstellungstermin soll nun der 28. Juni 2024 sein - drei Monate später als zuletzt geplant. «Uns ist bewusst, dass dies eine in vielerlei Hinsicht schwierige Entscheidung ist, die wir uns deshalb auch nicht leicht gemacht haben», sagte der Technische Betriebsleiter …

Sanierung des Schumann-Hauses abgeschlossen - Museum vor Eröffnung

Düsseldorf - Vier Jahre lang hat die Stadt Düsseldorf das ehemalige Wohnhaus des berühmten Musikerehepaars Clara und Robert Schumann saniert - jetzt steht das Schumann-Haus vor seiner Eröffnung. Am Freitag stellten die Stadt und das Heinrich-Heine-Institut die neuen Räumlichkeiten vor, bevor das Haus ab 1. Dezember als Museum für die Öffentlichkeit …

Theaterpreis: Opernintendant Klaus Zehelein für Lebenswerk geehrt

Einmal im Jahr kommen die Theaterschaffenden zusammen, um besondere künstlerische Leistungen zu würdigen. Nun wurde der Deutsche Theaterpreis zum zweiten Mal in Hamburg verliehen. Hamburg - Opernintendant Klaus Zehelein (83) ist beim Deutschen Theaterpreis «Der Faust 2023» für sein Lebenswerk geehrt worden. …

Opernchor der Bayreuther Festspiele soll um 40% gekürzt werden

Die Bayreuther Festspielleitung hat eine Stellenkürzung im Chor von 40 Prozent angekündigt. Chorvorstand und die Vertreter der Vereinigung deutscher Opern- und Tanzensembles (VdO) haben sich in einer Stellungnahme deutlich gegen eine solche Reduzierung ausgesprochen. Bayreuther Festspielchor lehnt Stellenkahlschlag von 40 % ab Bayreuth, …

Roth zur Haushaltslage: Sparen bei der Kultur wäre «völlig falsch»

Brüssel - Die aktuelle Haushaltskrise darf nach Ansicht von Kulturstaatsministerin Claudia Roth nicht zulasten von Kunst und Kultur gehen. «An der Kultur zu sparen, das wäre wirklich völlig falsch», sagte sie am Freitag in Brüssel bei einem Treffen der Kulturministerinnen und -minister der EU-Staaten. Kultur sei Lebenselixier, mobilisiere …

Theater Erfurt mit drei Millionen Euro Verlust - Ausgabensperre

Erfurt - Das Erfurter Theater hat in diesem Jahr bislang ein Defizit von rund drei Millionen Euro eingefahren. Die Stadt habe daher für das Haus im kommenden Jahr eine Ausgabensperre von einer Million Euro verhängt, wie Erfurts Kulturdezernent Tobias Knoblich am Donnerstag auf Nachfrage bestätigte. Zuvor hatte MDR Thüringen darüber berichtet … 

Lausitz-Festival widmet sich Begegnung mit dem Fremden

Görlitz - Der Umgang mit dem Neuen und Unbekannten soll 2024 im Mittelpunkt des Lausitz-Festivals stehen. «Wie seit langem nicht mehr, scheint unsere Gegenwart davon geprägt zu sein, dass sich große, aktive Denksysteme gegeneinander in Stellung bringen», erklärte Intendant Daniel Kühnel am Donnerstag bei der Vorstellung der Leitgedanken für das …


nmz-Stellenmarkt (aktuell)



Michael Kubes HörBar #103
Ligeti 100


Ligeti / Quatuor Diotima

György Ligeti. Streichquartett Nr. 1 «Metamorphoses nocturnes» (1953/54), Andante und Allegretto für Streichquartett (1950), Streichquartett Nr. 2 (1968).  Quatuor Diotima.  Pentatone PTC 5187 061 (2022)

Jeder Ton, nahezu jede in der Partitur verzeichnete Anweisung wird auf erschütternde Weise in akustischer Präzision offen dargelegt, so dass fast eine hörbar Enzyklopädie entsteht, bei der auch Geräuschhaftes auf suggestive Art präsent wird. Gleichzeitig zerfällt das Klangbild in einzelne, akustisch teilweise unnötig überraschende Aktionen. …


Aus der JazzZeitung


Die erweiterte Jazz-Radiowoche vom 27.11.2023 bis 03.12.2023

Martin Hufner – Jazz im Radio Jazz im Radio Montage: Hufner Ein kleiner Blick in die Radiowoche 48. Die Übersicht zum Download als PDF. Alle Angaben ohne Gewähr. Ergänzt mit den tollen Sendungen zur Neuen Musik von BR-KLASSIK und Ö1.

 

 

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