Newsletter der nmz 70 Jahre

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unsere neue Kulturstaatsministerin schwingt schon mal große Worte.

«Auch in der Krise räumen Bund und Länder der Kultur den Stellenwert ein, der ihrer Bedeutung für die Gesellschaft und der Stellung der Kunstfreiheit im Grundgesetz entspricht.» Dies mache der ausdrückliche Hinweis auf die besondere Begründungspflicht für Beschränkungen des Kulturbetriebs deutlich, sagte Roth. «Indem wir die Kultur stärken, stärken wir die Demokratie.»

Das liest man in der Nachricht der Deutschen Presse-Agentur. Voller Erfolg für den Deutschen Kulturrat, möchte man meinen, denn dieser reklamiert dies schon seit mehreren Monaten für den Sektor:

Kunst und Kultur sind mehr als Freizeit. Der Besuch von Kulturveranstaltungen oder Kulturorten hat stets einen Bildungsaspekt. Es ist daher dringend erforderlich, dass bei den nächsten Bund-Länder-Beratungen zu Corona-Schutzmaßnahmen Kultureinrichtungen und -veranstaltungen ähnlich wie Bildungseinrichtungen behandelt werden. Nur so kann dem Werk- und Wirkbereich von Kunst und Kultur, der auch durch Artikel 5, 3 des Grundgesetzes besonders geschützt ist, angemessen Rechnung getragen werden. Denn Theater, Museen, Konzerthäuser, Kinos und andere sind viel mehr als reine Freizeitorte. Wir erwarten, dass die Politik nach fast zwei Jahren Pandemie dies endlich bei der Festsetzung von Einschränkungen im Kulturbereich berücksichtigt.“

 Mit ein bisschen Bösartigkeit könnte man jetzt Frau Roth in die Pflicht nehmen. In der FAZ hat sie nämlich in einem Interview eine gewisse Bildungslücke erkennen lassen.

Die Hauskonzerte meines Freunds Igor Levit haben mir durch die schwierige Zeit der Pandemie geholfen. Er hat so viele Menschen mit seiner Musik beschenkt und gezeigt, wie vielfältig und kreativ wir als Gesellschaft füreinander einstehen können. Besonders liebe ich seine Beethoven-Sonaten oder sein Werk ,The people united will never be defeated’.“

Sie wissen es sicher besser. Das Stück ist von Frederic Rzewski, der vorletztes Jahr verstarb. Es ist diese Selbstverortungstendenz, sich an die Spitze engagierter Musik setzten zu wollen und damit Zustimmung für sich zu reklamieren. Boah, was ich doch engagiert bin und was ich für bekannte Freunde habe in der Musikszene.

Was mir aber so gar nicht an der Argumentation des Kulturrates gefällt: Warum muss man Kultur und Kunst von Freizeit angrenzen? Adorno hat bereits sehr deutlich für freie Zeit sich eingesetzt:

Das Wort [Freizeit], übrigens erst jüngeren Ursprungs – früher sagte man Muße, und das war ein Privileg unbeengten Lebens, daher auch dem Inhalt nach wohl etwas qualitativ anderes, Glückvolleres –, weist auf eine spezifische Differenz hin, die von der nicht freien Zeit, von der, welche die Arbeit ausfüllt, und zwar, darf man hinzufügen, die fremdbestimmte.“ [Band 10: Kulturkritik und Gesellschaft I/II: Freizeit. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 8468 (vgl. GS 10.2, S. 645)]

Und ist damit ein Radio-Tipp für den Mittwoch: 

20:30 Uhr | Deutschlandfunk
Lesezeit: Theodor W. Adorno liest „Freizeit – Zeit der Freiheit?“

(Wdh. v. 25.5.1969). Anlässlich des 60-jährigen Jubiläums des Deutschlandfunks senden wir im Januar in der „Lesezeit” historische Aufnahmen aus unserem Archiv. Nach Marie Luise Kaschnitz in der vergangenen Woche folgt nun mit Theodor W. Adorno (1903-1969) einer der bedeutendsten Philosophen und Soziologen des 20. Jahrhunderts. Am 25. Mai 1969 hat Theodor W. Adorno einen Vortrag für den Deutschlandfunk gehalten. Das Thema: der Zusammenhang von Hobby, Freizeit und Kulturindustrie. Überschrieben war der Vortrag mit „Freizeit – Zeit der Freiheit?“. Adorno führt darin unter anderem aus, dass für ihn das Lesen genauso wie das Musikhören und Musikmachen integraler Bestandteil seines Lebens sei. Davon lediglich als „Hobby“ zu sprechen, so Adorno, würde Hohn gleichkommen.

Man muss Adorno da nicht in allen Fragen zustimmen. Aber fragen lassen muss man sich schon dürfen, wie es sein kann, dass der Begriff der Freizeit so auf den Hund gekommen ist, dass man damit nun wirklich nicht assoziiert werden möchte. Im Übrigen sind natürlich zahlreiche Kulturveranstaltungen dauernd im Ausfallmodus: Seien es Karneval, Diskothek oder “Tanzlustbarkeiten”. Verführerisch scheint dagegen die neue Kanonisierung von Kunst & Kultur nach Recht und Gesetz. Wenn aber nun Kunst und Kultur viel mehr als Freizeitorte sind, was sind sie denn dann? Und vor allem, spielt es denn eine Rolle, wenn Fragen der Bändigung des Pandemiegeschehens zuerst zu beachten sind. Ein Umarmungshappening mit Knutschen steht da anders da als eine Radioübertragung eine Stücks für Solovioline aus irgendeiner Philharmonie. 

Adorno hat am Ende seines Aufsatzes, bzw. Vortrags die Hoffnung geäußert, dass vielleicht Freizeit in Freiheit umschlage. Und an anderer Stelle heißt es bereits um 1945: 

Während der Struktur nach Arbeit und Vergnügen einander immer ähnlicher werden, trennt man sie zugleich durch unsichtbare Demarkationslinien immer strenger. Aus beiden wurden Lust und Geist gleichermaßen ausgetrieben. Hier wie dort waltet tierischer Ernst und Pseudoaktivität.“ [Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Stundenplan. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1899 (vgl. GS 4, S. 148)]

Aktuell sieht es eher danach aus, genau diese Demarkationslinien zu verstärken, anstatt sie aufzulösen. Kunst und Kultur sind jedenfalls meines Erachtens jeweils mehr als jeweils das, als was man sie definieren möchte. Sie sind immer etwas mehr und auch etwas weniger als eine Verwirklichung zivilisatorischer Aufklärung und des Genusses. 

Ein ganz anderes Thema der Roth-Einlassung steht übrigens noch aus. Ist es eine hohle Phrase oder eine steile These? «Indem wir die Kultur stärken, stärken wir die Demokratie.» 


Immer STREITBAR

Roth: Gesellschaftlicher Relevanz der Kultur Rechnung getragen

Berlin - Mit den jüngsten Beschlüssen von Bund und Ländern in der Corona-Pandemie sieht Kulturstaatsministerin Claudia Roth die Rolle der Kultur gestärkt. Damit werde «der gesellschaftlichen Relevanz der Kultur und der Kreativen ausdrücklich Rechnung getragen», sagte die Grünen-Politikerin am Freitag laut einer Mitteilung.Weiterlesen

Siehe dazu auch: Kulturminister machen sich stark für «Freiheit der Kunst»


KRITIK

Mozart an der Moldau: Vom Himmel regnet’s Seifenblasen – Eine poetische „Così fan tutte“

Dass diese Premiere überhaupt stattfinden konnte, sei nahezu ein Wunder gewesen. Per Boye Hansen, als Künstlerischer Leiter von Nationaltheater und Staatsoper quasi der oberste Opernchef in Prag, grüßte am Samstag beglückt und freute sich für Ensemble und Publikum über die Negativ-Tests der A-Besetzung. Die B-Premiere von Mozarts „Così fan tutte“ freilich ist vorerst gecancelt, weil deren Besetzung pandemiebedingt nicht ausreichend proben konnte. Weiterlesen

Die Sichere, der Feinsinnige, der Exklusive: Der 18. Operetten-Workshop Junge Dirigenten in der Musikalischen Komödie Leipzig

Geisterkonzert“ trifft es nicht ganz: Ein Name für die Veranstaltungsmodalitäten des 18. Operetten-Workshops muss noch erfunden werden. Wie bezeichnet man eine konzertante Aufführung ohne Frack und Abendkleid, ohne öffentliche Ankündigung und ohne Publikum? Die drei Stipendiat*innen vom Forum Dirigieren des Deutsches Musikrats erlebten in der Musikalischen Komödie Leipzig bei den Proben zu Walter Kollos „Jettchen Gebert“ eine abenteuerliche Kette von Ausnahmesituationen, bedingt durch die Schließung aller Kultur-Einrichtungen im Freistaat Sachsen bis 14. Januar. Nicolò Foron, Annalena Hösel und Friedrich Praetorius wird so schnell nichts mehr erschüttern. Sie sind jetzt um einige Erfahrungen und Glücksmomente reicher. Roland H. Dippel besuchte am 7. Januar die Generalprobe. Weiterlesen

Verspätete Premiere von Jochen Biganzolis „Tristan und Isolde“ Inszenierung in Halle bejubelt

Es war eine Premiere mit Hindernissen, auf deren Stattfinden schon keiner mehr gewettet hätte. Die Generalprobe gab es schon im Frühjahr 2021 – die Premiere selbst wurde dann mehrfach verschoben. Jetzt endlich hob sich der Vorhang für Jochen Biganzolis „Tristan und Isolde“ Inszenierung doch noch. In dem Falle ist es inhaltlich relevant daran zu erinnern, dass er sein Konzept im April 2019 für das Theater Hagen erarbeitet hat, also noch lange vor Ausbruch der Pandemie. Wer sie jetzt in Halle in modifizierter Form miterlebte, könnte allerdings auf die Idee kommen, dass es sich um eine bewusst corona-bekämpfungskompatible Inszenierung handelt. Weiterlesen

Grenzüberschreitungen live und digital - Das 58. Jazzfest Berlin bot Musik aus Kairo, São Paulo, Johannesburg, Bremen, München und Berlin-Tegel

Berlin im November 1964: eine geteilte Stadt; der Zaun, die Mauer: eine Wunde: hier kommen etliche zu Tode, die derart menschengemachte, menschenverachtende „Grenzen“ überschreiten müssen. Berlin West: Platz der Luftbrücke: hier muß augenblicklich zweimal umsteigen, wer auf der U-Bahn Linie U 6 von Alt-Mariendorf nach Alt-Tegel fah­ren will, um ins „Silent Green“ zu gelangen, dem augenblicklichen Hauptspielort der Berliner Festspiele. Schuld sind Gleisbauarbeiten. 1949 machte die Luftbrücke Berlin-West zur Insel. 15 Jahre später, 1964: die ersten Berliner Jazztage; Jazz, Musik der Freiheit , Musik der Befreiung, der Grenzüberschreitung. Jazz in Berlin, das ist mehr als anderswo: Erforschung, Erlebnis einer Kultur der Grenzüberschreitung. Weiterlesen


Tonträger-Bilanz 2021 –
Der persönliche Jahresrückblick der nmz-Phonokritiker


In der 50. HörBar von Michael Kube geht es um «America»

  • American Pioneers: Manchen wird etwas unwohl, wenn das Adjektiv «american» nicht geographisch korrekt den großen Doppelkontinent meint, sondern nur die Vereinigten Staaten und deren «way of life». Natürlich gibt es in nahezu allen Bereichen des Lebens populäre Verallgemeinerungen; dass sie sich aber auch auf seriösen Covern und im eingespielten Repertoire niederschlagen, überrascht dann doch. Die ohnehin ungenaue, oftmals allzu leichtfertig hingeworfene Begrifflichkeit verweist auf eine kulturelle Vormachtstellung, die zwar faktisch existent ist (zumal durch verschiedene musikalische Institutionen), zugleich aber vieles ausklammert oder gar ausgrenzt.…


CORONA – die vierte/fünfte Welle

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Martin Hufner

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